RECKLINGHÄUSER

In allen Veröffentlichungen, die bisher zur Straßenbahn Herne – Baukau – Recklinghausen erschienen sind, einschließlich der offiziellen Festschriften der Vestischen Straßenbahnen zum 50. und 75. Jubiläum, gingen die Autoren davon aus, dass die für das Unternehmen beschafften Straßenbahnwagen vierachsige Überlandwagen waren.

Die Recherchen von Sven Binder für sein 2022 erschienenes Buch über die Straßenbahn Herne – Baukau – Recklinghausen hat nunmehr aufgezeigt, dass der Betrieb vermutlich mit vier zweiachsigen Triebwagen, zwei passenden zweiachsigen Beiwagen und vier vierachsigen Triebwagen aufgenommen wurde. Lieferant der zehn Fahrzeuge der Erstausstattung war die Waggonfabrik Falkenried in Hamburg.

ERSTAUSSTATTUNG AUS HAMBURG

Die vier zweiachsigen Triebwagen erhielten die Nummern 1 bis 4, die zeitgleich ausgelieferten Vierachser die Nummern 5 bis 8. Den Beiwagen gab man die Nummern 51 und 52. Alle Fahrzeuge hatten anfangs einen Holzaufbau mit offenen Plattformen.

Ein erstes Probefahrzeug stand bereits Ende 1897 für Probefahrten in Recklinghausen zur Verfügung. Es ist davon auszugehen, dass alle bestellten Fahrzeuge im Winter 1897/98 per Bahn in Recklinghausen angeliefert wurden.

EINMOTORIGE ZWEIACHSER

Im Zusammenhang mit der Auslieferung der im Jahr 1900 bei der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg (MAN) und Schuckert & Co. bestellten Triebwagen 5 bis 9 wurden die Zweiachser der Erstausstattung neu nummeriert. Die vierachsigen Triebwagen der Erstausstattung erhielten jetzt die Nummern 1 bis 4 in Zweitbesetzung.

Vermutlich rückte die Bezeichnung der Triebwagen mit der nachfolgend beschriebenen Anschaffung weiterer Vierachser in den Jahren 1900 und 1905 Serie um Serie nach hinten. Nach Binders Recherchen wurden sie 1908 mit den Nummern 12 bis 15 und 1912 mit den Nummern 13 bis 16 im Wagenpark geführt.

Charakteristisch für die Falkenried-Zweiachser waren der dreifenstrige Wagenkasten mit 16 Sitz- und 14 Stehplätzen und der Rollenstromabnehmer. Es gab lediglich einen Fahrmotor. Er wurde von General Electric zugeliefert, während die übrige elektrische Ausstattung von der Union Elektrizitäts-Gesellschaft (UEG) stammte. 1902 wurden elektrische Stirnlampen installiert. 1903 erhielt Triebwagen 14 als erstes Fahrzeug eine Plattformverglasung. Die übrigen drei Triebwagen folgten 1905.

In dieser „modernisierten“ Ausführung diente Triebwagen 13 als Vorlage für eine sogenannte „Künstlerkarte“. Sie zeigt die Bochumer Straße in Recklinghausen Süd. Sehr gut ist in der Ausschnittvergrößerung auch der ursprüngliche, separate Bahnkörper zu erkennen (Unbekannter Postkartenverlag – Sammlung Heinz Staubermann / Jochen Weber).

Unter den Nummern 13 bis 16 waren die Zweiachser ab 1908 vermehrt als Arbeitswagen im Einsatz. Bis 1921 wurden sie ausgemustert.

ELEGANTE VIERACHSER

Die vier von der Waggonfabrik Falkenried als Teil der Erstausstattung gelieferten Vierachser (Triebwagen 5 bis 8) ähnelten grundsätzlich den Zweiachsern, hatten aber einen Wagenkasten mit sieben Seitenfenstern, 32 Sitzplätze und 18 Stehplätze.

Mit ihrem langgestreckten Wagenkasten und den Maximum-Drehgestellen boten die Vierachser ein elegantes Bild. In zeitgenössischen Zeitungsartikeln wurde zudem ihr ruhiger Lauf lobend erwähnt. In den Drehgestellen wurde jeweils ein GE 800-Motor von General Electric verbaut. Aufgrund des hohen Gewichts erhielten die Triebwagen zudem von Anfang an elektrische Bremsen. Die Stromabnahme erfolgte über zwei Rollenstromabnehmer.

Das nachfolgende Foto aus dem Bildarchiv der Stadt Herne zeigt Triebwagen 7 im Lieferjahr im Betriebshof. Ein bemerkenswertes Detail sind die auf die Stirnwände der Plattformen lackierten Fahrtziele „Recklinghausen“ und „Herne“: Es war somit nicht vorgesehen, die Wagen zu wenden. Eine weitere Eigenheit ist der seitliche, von der Firmenbezeichnung abweichende Schriftzug „Recklinghausen – Bruch – Baukau – Herne“.

Wie die Zweiachser hatten auch die Vierachser anfangs offene Plattformen. Diese wurden ab 1904 geschlossen. In diesem Zustand fotografierte Joseph Schäfer 1918 Triebwagen 3 mit einem Güterwagen im Betriebshof. Die Aufnahme ist im Bildarchiv des LWL-Medienzentrums für Westfalen erhalten, darf aber hier aus Urheberrechtsgründen nur als Link eingebunden werden.

Bei diesem Fahrzeug handelt es sich um den ursprünglichen Triebwagen 7, nunmehr allerdings auch in der ab 1908 vollständig eingeführten Lackierung in Elfenbein mit braunen Absetzstreifen.

1927 wurden die ursprünglichen Aufbauten der Triebwagen 1 bis 4 abgebrochen und durch moderne Wagenkästen aus Stahl ersetzt. Erstmals kamen jetzt Scherenpantographen für die Stromabnahme und Rollbänder für die Zielbeschilderung zum Einsatz. Ein unmittelbar nach dem Umbau entstandenes Foto (unten) befindet sich als Teil der Sammlung Peter Boehm im Archiv des Kölner Straßenbahnfreundes Axel Reuther.

Die Vestische Kleinbahnen GmbH gab den vier Triebwagen 1939 die Wagennummern 201 bis 204. Die stark abgenutzten Maximum-Drehgestelle wurden 1942 durch zweiachsige Fahrgestelle ersetzt.

Triebwagen 201 wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Die übrigen drei Triebwagen kamen unter den Nummern 303 bis 305 wieder in Betrieb.

1954 wurden die schmalen Führerstände in eigener Werkstatt erneut umgebaut. Sie wurden dadurch etwas geräumiger.

Triebwagen 304 wurde 1961, Triebwagen 303 und 305 wurden 1962 ausgemustert.

STÖRANFÄLLIG

Im Jahr 1900 beschaffte die Straßenbahn Herne – Baukau -Recklinghausen vier weitere Vierachser (Triebwagen 5 bis 8 in Zweitbelegung). Der Auftrag ging in diesem Fall an die Gottfried Lindner AG in Ammendorf bei Halle (Saale).

Das war nicht ungewöhnlich: Zwischen den Waggonfabriken Falkenried und Lindner gab es um die Jahrhundertwende eine enge Zusammenarbeit. So lieferten die Unternehmen gemeinsam unter anderem Straßenbahnwagen für das Stadtnetz in Halle.

Wie die drei Jahre zuvor gelieferten Fahrzeuge erhielten auch die Lindner-Wagen anfangs einen Wagenkasten mit sieben Bogenfenstern und offenen Plattformen.

Die in Ammendorf gebauten Vierachser erwiesen schon bald als störungsanfällig: Bereits 1906 wurden die vier Triebwagen einer umfassenden Ertüchtigung durch den Hersteller unterzogen. Die nachfolgend gezeigte Illustration (Waggonfabrik Gottfried Lindner AG, Ammendorf – Sammlung Peter Boehm / Axel Reuther) diente vermutlich als Entscheidungshilfe für Design und Ausstattung.

Die Arbeiten umfassten die Schließung der Plattformen und den Umbau des Laternendaches zu einem Schleppdach, das genügend Platz für zwei Rollenstromabnehmer bot. Die Bergische Stahlindustrie, vormals H. H. Böker in Remscheid, lieferte verstärkte und besser gefederte Ersatz-Drehgestelle, möglicherweise unter Nutzung brauchbarer Komponenten.

Wie bei den im Mai 1905 gelieferten Falkenried-Wagen gab es jetzt auch eine Zielbeschilderung auf dem Dach. Auf den drehbaren Metallkästen war Platz für vier Zielangaben. Neben den Endstellen „Recklinghausen“ und „Herne“ konnte jetzt auch das Fahrtziel „Kraftstation“ (Betriebshof) angezeigt werden.

1926 erfolgte eine weitere Generalüberholung, nach dem Verkauf der Straßenbahn Herne – Recklinghausen an die Vestische Kleinbahnen GmbH erhielten die Triebwagen die Nummern 205 bis 208.

Die in einem schlechten Allgemeinzustand übernommenen Triebwagen 205 und 206 wurden Anfang der 1940er-Jahre in Recklinghausen ausgemustert und zerlegt.

Triebwagen 207 und 208 gelangten demgegenüber 1941 mit Triebwagen 209 nach Teplice. Dort erhielten sie in Zweitbesetzung die Nummern 1 bis 3. Während Triebwagen 3 (ehemals 209) dort 1953 abgestellt wurde, wurden die Triebwagen 1 und 2 (ehemals 207 und 208) 1954 an die Waldbahn Hronec weitergegeben. Dort wurde der Personenverkehr 1967 eingestellt. Erst 1969 wurden die Wagen aus dem Ruhrgebiet verschrottet.

HILFREICHE ZWEIACHSER

Als Ersatz für die wegen der komplexen Umbauten nicht vollständig einsetzbaren Vierachser wurden 1905 fünf zweiachsige Triebwagen bei der Straßenbahn Herne – Baukau – Recklinghausen eingestellt. Sie erhielten die Betriebsnummern 9 bis 13.

Lieferant des mechanischen Teils war MAN, die elektrische Ausstattung stammte von Schuckert & Co.. Da beide Firmen in Nürnberg ansässig waren erfolgt ihr Bau vermutlich in den Nürnberger Produktionsstätten von MAN. Mit 9,2 Metern Länge waren die 7,5 Tonnen schweren Triebwagen deutlich größer als die Zweiachser der Erstausstattung. Der elegante Innenraum bot 20 Sitz- und 15 Stehplätze.

Von den formschönen Fahrzeugen sind zwei Werkfotos erhalten geblieben: Das im Titel des Kapitels gezeigte Foto in der Sammlung Paul-Heinz Prasuhn und das nachfolgende Bild in der Sammlung Peter Boehm. Heute befinden sich die Originale im Archiv von Axel Reuther.

Der Radstand war mit 1,8 Metern recht gering. Der anfangs schwache Oberbau und der hohe Schienenverschleiß trugen dazu bei, dass die Fahreigenschaften der Wagen nicht befriedigten. Dem konnte MAN auch mit Nachbesserungen nichts entgegensetzen. Auch Versuche mit den von MAN entwickelten, einachsigen Lenkdrehgestellen blieben – wie die Triebwagen 41 bis 45 der Märkischen Straßenbahn in Witten – erfolglos.

Mit der Ablieferung der 1905 bei der Waggonfabrik Falkenried bestellten Triebwagen 14 und 15 trennte sich das Unternehmen von den Zweiachsern. Schuckert & Co. konnte sie 1906 an die Straßenbahn in Elbing in Westpreußen vermitteln. Dort kamen sie unter den Nummern 17 bis 21 wieder in Fahrt. Triebwagen 19 erhielt in Elbing 1935 einen neuen Aufbau in eigener Werkstatt. Ab 1937 war er unter der Nummer 17 auch als Lehrwagen im Einsatz. Von den übrigen vier Wagen waren 1942 noch drei Triebwagen vorhanden. Danach verliert sich ihre Spur.

NOCHMALS FALKENRIED

Wie bereits erwähnt, wurden 1905 zwei weitere Triebwagen unter den Nummern 14 und 15 bei der Waggonfabrik Falkenried bestellt. Bei der Ablieferung erhielten sie die Nummern 9 und 10 in Zweitbesetzung.

Die mit soliden Drehgestellen ausgestatteten Wagen waren vollständig geschlossen. Der Fahrgastraum hatte wie bei den früheren Serien wieder sieben große Fenster (Werksfoto Waggonfabrik Falkenried, Hamburg – Sammlung Paul-Heinz Prasuhn / Axel Reuther).

1939 wurden die Falkenried-Triebwagen unter den Nummern 209 und 210 von der Vestischen Kleinbahnen GmbH übernommen. Triebwagen 209 musste 1941 auf Grundlage des Reichsleistungsgesetzes als Kriegshilfe nach Teplice (damals Teplitz) abgegeben werden. Triebwagen 210 wurde zum Kriegsverlust.

SCHWERE ÜBERLANDWAGEN

1908 und 1921 ergänzten jeweils zwei weitere Triebwagen den Wagenpark. Sie wurden bei der Gottfried Lindner AG in Ammendorf bestellt.

Die 1908 gelieferten Fahrzeuge erhielten die Nummern 11 und 12. Die sehr ähnlichen, 1921 gelieferten Triebwagen kamen unter den Nummern 13 und 14 in Fahrt.

Die nachfolgende Illustration erschien in einer Firmenpublikation der Gottfried Lindner AG (Sammlung Peter Boehm – Archiv Axel Reuther).

Die Vestische Kleinbahnen GmbH übernahm die vier Triebwagen unter den Nummern 211 bis 214. Obwohl sich die schweren Überlandwagen im Betrieb sehr gut bewährt hatten, wurden auch sie vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges ausgemustert und vermutlich im Betriebshof Recklinghausen-Ost zerlegt.

BEIWAGEN

Neben den Triebwagen gab es bei der Straßenbahn Herne – Baukau – Recklinghausen von Anfang an auch Beiwagen.

Zur Erstausstattung gehörten die 1897/98 von Falkenried gelieferten Beiwagen 50 und 51. Sie wurden 1912 mit unbekanntem Ziel verkauft.

1901 lieferte MAN die Beiwagen 52 bis 56. Von ihnen sehen wir nachfolgend ein Katalogbild (Sammlung Paul-Heinz Prasuhn / Archiv Axel Reuther).

UERDINGER BEIWAGEN

Drei 1919 von der Waggonfabrik Uerdingen gelieferte Beiwagen sollen von einer 1917 bestellten Serie für die Vestische Kleinbahnen GmbH (dort Beiwagen 81 bis 97) „abgezweigt“ worden sein. Sie erhielten die Wagennummern 57 bis 59.

Drei baugleiche Beiwagen folgten 1920 als Gelegenheitskauf. Diese Wagen waren 1913 von der Waggonfabrik Uerdingen für die Hamborner Straßenbahn gebaut worden und erhielten die Nummern 60 bis 62.

Die ehemaligen Beiwagen 96 und 97 der Vestischen Kleinbahnen GmbH wurden 1927 und 1931 an die Straßenbahn Herne – Recklinghausen abgegeben und unter den Nummern 63 und 64 eingereiht.

Mit dem Verkauf der Bahn gelangten die acht von der Waggonfabrik Uerdingen gelieferten Beiwagen unter den Nummern 257 bis 264 in den Bestand der Vestischen Kleinbahnen GmbH.

1958 wurden die Beiwagen 257 bis 260 sowie 263 und 264 ausgemustert. 1961 trennten sich die Vestischen Straßenbahnen von den Beiwagen 261 und 262.

HERUNTERGEWIRTSCHAFTET

Bei der Übernahme durch die Vestische Kleinbahnen GmbH waren die Trieb- und Beiwagen der Straßenbahn Herne – Recklinghausen trotz ihrer soliden Technik stark verschlissen.

Zum Zustand des Wagenparks der Straßenbahn Herne – Recklinghausen schreibt das Unternehmen in der Jubiläumsschrift von 1951: „Der heruntergewirtschaftete Wagenpark … bestand nur noch aus drei einsatzfähigen Triebwagen und acht Beiwagen.“

ARBEITSFAHRZEUGE

Zu den Arbeitsfahrzeugen gehörten anfangs drei Loren, ein kleiner und ein großer Turmwagen, und ab 1910 auch ein Salzwagen. Bis auf den großen Turmwagen wurden diese Fahrzeuge bis 1920 ausgemustert oder neu nummeriert. Sven Binder erwähnt darüber hinaus sieben eigene Güterwagen, darunter ein 10-Tonnen-Güterwagen, der 1928 von den Vestischen Kleinbahnen kam. Von der Westfälischen Straßenbahn GmbH wurde zudem 1924 eine Güterlok gekauft (Nummer 101 = Vestische Kleinbahnen GmbH 1001, ausgemustert 1976). Die Vestische Kleinbahnen GmbH übernahm 1939 neben der Lok vermutlich drei Güterwagen und den großen Turmwagen.